Lügen können
Michael Seibel • Eine Sozialkompetenz steht infrage. (Last Update: 02.04.2019)
Mit Datenintegrität
ist folgendes Problem gemeint: Man stelle sich einen Augenblick vor,
die Fähigkeit, die Menschen nun einmal haben und die sie zu
einem Gutteil auch ausmacht, lügen zu können, ließe
sich ausschalten. Menschen die nicht lügen hätte man z. B.
gerne, wenn man mit einem Unbekannten auf der anderen Seite des
Globus im Onlinehandel ein Geschäft abwickeln möchte 1
oder wenn zwei
Menschen gleichzeitig behaupten, der Erfinder einer bestimmten
Technologie zu sein. Wäre es nicht äußerst
wünschenswert, wenn das gewährleistet wäre? Wir sind
sehr geneigt, dem ohne wenn und aber zuzustimmen. Darf z.B. ein Arzt lügen, um seinem Patienten die Schwere seines Leidens zu verschweigen?
Welche Rechte sollte man den Angehörigen in einem Strafverfahren gegen ihre nahen Verwandten einräumen, die Aussage zu verweigern?
Das wird vor Gericht in Deutschland, Frankreich und Großbrittanien
zur Zeit durchaus unterschiedlich gesehen. 2
Und sollte man nicht unbedingt lügen, wenn das hilft, jemand anderen vor ungerechtfertigter Verfolgung zu retten?
Andererseits ist
unbedingt sicherzustellen, dass
derjenige, der soeben einer Militär-Drohne einen Angriffsbefehl
gibt, kein feindlicher Hacker ist, sondern wirklich der, für den
er sich ausgibt.
Man stelle sich das Problem der Lüge auf dem Niveau von Massendaten vor. Jedes einzelne Datum könnte nicht nur durch irgendwelche technischen Defekte inkorrekt, sondern potenziell gefälscht sein. Es geht gar nicht darum, paranoid zu werden und zu unterstellen, es könne jemanden geben, der ein Interesse daran hätte, in globalem Umfang Daten zu fälschen. Und dennoch ist das Problem der Fälschung ebenso umfänglich wie die Erhebung von Massendaten und die Möglichkeit ihrer Verarbeitung. Jedes Programm, das Daten verarbeitet, kann sie potentiell auch an jeder Stelle fälschen.
Aber hieße Lüge und Fälschung auszuschalten nicht auch, sich einer Kontrolle auszusetzen, die ohne jeden Ausweg wäre? Was wäre, wenn der Besitzer aktions- und zustandssicherer Massendaten auch noch sicher sein könnte, dass weder deren Inhalt falsch ist, noch dass seine eigenen Aktionen, die er daraus ableitet, sich im Durchgang durch die sie ausführenden Befehlsketten verfälschen lassen? Das verdüstert unsere Freude über die Abschaffung der Lüge möglicherweise erheblich. Was wird dabei aus fake news? Selbst wenn die Nachrichtengrundlage jederzeit überprüfbar wäre, wäre keineswegs sicher, dass man auf eine Öffentlichkeit treffen würde, die sie zur Kenntnis nehmen möchte und dass die Propagandisten verschwinden würden, die sie zu ihren eigenen Zwecken filtern und umdeuten.
Wäre es nicht bei weitem intelligenter, wenigstens mit einigen der Gründe anders umzugehen, aus denen heraus gelogen wird, z.B. mit der Konkurrenz oder der Gier und all den Nöten, aus denen heraus gelogen wird, statt nur die Möglichkeit zu lügen durch neue Beweismittel zu beschneiden? Wenn man darauf besteht, die Evolution habe die Menschen zu geborenen Konkurrenten gemacht, wird man es kaum für möglich halten, viel an den Gründen zu ändern, aus denen gelogen wird, und man wird beim Bedürfnis nach sozialer Wahrheit auf Überwachung und Integritätsbeweise a la Blockchain setzen. Aber das ist die selbe Denkrichtung, die in der Biotech zu allererst ein Versprechen von ewiger Jugend sieht. Man setzt alles auf rasante technische Innovation und nichts auf auch nur die geringste Veränderung der ziemlich infantilen Geschichten, die vom Sinn erzählen. Wir wissen heute einfach noch nicht, wie die sinnvolle Geschichte aussehen könnte, in die Biotech und Infotech zu integrieren sind. Wir wissen nur, dass die bisherigen Haupt-Narrative Liberalismus, Sozialismus, Christentum, Islam mit nichten in der Lage sind, den Transfer der Leistungsfähigkeit von Menschen auf Maschinen, den wir gegenwärtig erleben, mit Sinn auszustatten.
Bestimmte wirtschaftlich und wahrscheinlich auch militärisch zentrale Formen der Lüge werden in Zukunft unmöglich. Dafür deutet sich neuerdings mit der Blockchain eine technische Lösung an, mit der bis vor kurzem niemand gerechnet hätte. Haben wir je darüber nachgedacht, ob wir das wirklich wollten? Haben wir uns wirklich schon einmal ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob es nicht sehr oft gerade die Lüge ist, die das Wirtschaftsleben in Schwung hält? Arbeitsteilig wirtschaften, für andere arbeiten, ist bisher immer eine Aktivität im Umfeld unvollständiger Information gewesen. Der motivierende Glaube daran, Gewinn machen zu können, das Treibende am Markt, wäre ohne Finten und bei vollständiger Information aller Beteiligten möglicherweise extrem eingeschränkt. Die meisten Akteure am Markt sind keine Innovatoren, die schlechterdings neue Felder bearbeiten, die noch nicht verteilt sind. Möglicherweise wird die Blockchain gerade bestimmten großen Playern nützen, selbst dann, wenn sie zunächst einmal das klassische Bankengeschäft als klassischen Intermediär beschneidet. Heute bereits wird Amazon vorgeworfen, in Geschäftsfelder kleinerer Anbieter zu drängen, die die Amazon-Plattform nutzen, wenn sie von deren Geschäftsmodell detaillierte Kenntnis bekommen hat und durchrechnen kann, dass es sich lohnt.
Integrität nutzt nicht notwendigerweise den Erfindern, Entwicklern und Innovatoren. Integrität schützt Bestände, also auch Kapital und Datenbestände und hat damit auch einen konservativen Zug. Etwas soll immobiler werden als es ohne dies ist, feststehen, so bleiben, wie es ist.
Booh! Wahnsinnig!
Aber von der Möglichkeit, die Blockchain überall einzusetzen, sind wir wahrscheinlich wegen deren Energiebedarf weit entfernt. Es dürfte ein interessantes Problem für Physiker sein, wie die energetische Bilanz aussehen würde, wenn man die physische Welt durch eine Welt garantiert wahrer Daten verdoppeln würde. Möglicherweise würde auch auf diesem Weg ein Punkt erreicht, an dem den Kontrollwahn dermaßen Ressourcen fressend würde, dass man ihn ebenso einstellen müsste wie den eifersüchtigen Versuch, dass Lächeln der Geliebten zu kontrollieren. Aber welcher Wahnsinnige hält schon an dieser Grenze inne?
Noch sind wir auf der Ebene digitaler Daten einige Schritte weiter in Richtung Anwendung als auf der Ebene biologisch-genetischer Information. Wir sind bei Infotech weiter als bei Biotech. Aber wir sind gerade mit Techniken wie crispr cas9 dabei, eine vergleichbare Entwicklung anzustoßen. Gencode wird nicht nur als eine Art von Text verstanden, sondern auch wie Text editierbar, lässt sich schreiben und modifizieren. Ob sich wohl demnächst mit Genen auch lügen lässt? Immerhin soll, was herauskommt leben. Vielleicht wird auch ins genom editing das Phänomen der Lüge Einzug halten. Nach Meinung der Kirchen liegt ja die Gefahr auf der Hand, dass der Mensch in Gottes Werk einzugreifen versucht. Man wird versuchen, auf dafür Lösungen zu finden.
Die biologische Informationsverarbeitung stellt eine, wenn auch noch ziemlich vage intellektuelle Herausforderung an uns, die uns die digitale nicht zumutet: Wir sind gezwungen zu denken, dass alle biologischen Organismen an irgendeiner Stelle der Nahrungskette stehen, deren oberstes Glied gegenwärtig der Mensch ist. Ein klein wenig unheimlich ist es schon, dass es möglich sein könnte, neue Glieder in diese Kette einzuschreiben. Es ist nicht ohne Spannung, sich für einen Moment dem Reiz dieses Gedankens zu überlassen. Aber beruhigen wir uns, die Gefahr, von einem selbst erzeugten Homunculus gefressen zu werden, dürfte auf absehbare Zeit erheblich geringer sein als die, von der Geheimpolizei eines Diktators umgebracht zu werden. Und diese Gefahr dürfte wieder weit kleiner sein als die Gefahr, im Straßenverkehr umzukommen und diese wiederum, als an zu viel Zuckerkonsum zu sterben.
Nicht leicht abzuschätzen ist dagegen die gegenwärtige Gefahr durch Atomwaffen, die aus der digitalen Welt zu uns kommt. Wenn man bedenkt, wie gelassen wir mit der Atomgefahr umgehen, ist anzunehmen, dass wir uns auch an den Zombie gewöhnen würden, sobald man ihn auf uns loslässt.
Anmerkungen:
1 Mit neuen Vorschriften sollen die europäischen Verbraucher vor Online-Betrug in Milliardenhöhe schützen. So wie der weltweite Onlinehandel bis 2022 voraussichtlich die Billionen-Dollar-Grenze durchbrechen wird, steigt auch die Betrugsgefahr: Allein der Kreditkartenbetrug beläuft sich schon heute auf eine Summe von 1,3 Milliarden Euro, schätzt die Europäische Zentralbank. Eine effektive Betrugsbekämpfung ist daher notwendig. Europa steht vor einem großen Umbruch in der Abwicklung von Online-Zahlungen. Ähnlich wie die europäischen Datenschutzgrundverordnung vom 25. Mai 2018 den Umgang mit personenbezogenen Daten nachhaltig beeinflusst hat, wird auch die starke Kundenauthentifizierung, kurz SCA (Strong-Customer-Authentication), für jeden europäischen Online-Konsumenten folgenreich sein. Mit Inkrafttreten der neuen europaweiten Verordnung am 14. September 2019 wird sich die Art und Weise, wie Online-Transaktionen abgewickelt werden, drastisch verändern. SCA verlangt eine zusätzliche Authentifizierungsstufe bei Online-Zahlungen. Wo früher die Kreditkartennummer ausreichte, werden Konsumenten nun mindestens zwei von drei Faktoren parat haben müssen, um zum Beispiel eine Reise zu buchen oder Musik-Streaming zu nutzen: etwas, das sie wissen (wie ein Passwort oder eine Pin), etwas, das sie besitzen (wie ein Token oder ein Smartphone), oder etwas, das sie selbst sind (also biometrische Eigenschaften wie ein Fingerabdruck oder Gesichtsmerkmale).
2 Auf z.B. im innereuropäischen Rechtsvergleich äußerst unterschiedliche Rechtsauffassungen bei den Angehörigenprivilegien im Strafprozess weist Mika Kremer hin:
„Abschließend lässt sich sagen, dass Deutschland, Frankreich und England sehr unterschiedliche Antworten auf dasselbe soziale Problem gefunden haben. Auch wenn sich die Regelungen insofern gleichen, als dass alle eine Sonderrolle für gewisse Angehörige vorsehen, lässt sich doch eine starke Prägung durch die jeweilige nationale Rechtsentwicklung beobachten. Die Angehörigenprivilegierung bietet ein wunderbares Beispiel dafür, wie unterschiedlich in kulturell ähnlichen Ländern mit ein und demselben Problem umgegangen werden kann. So gewann die Privilegierung in Deutschland immer mehr an Gewicht, während sie sich in England schon immer auf Ehegatten beschränkte, nur einen geringen praktischen Stellenwert hat und heutzutage von vielen Seiten kritisch betrachtet wird. In einer noch stärkeren Krise befinden sich die Sonderregeln im französischen Recht, deren Abschaffung im Grunde unisono gefordert wird. Diesen Eindruck bestätigt auch der Vergleich des Umgangs mit Beinahetreffern bzw. dem familial searching in den drei Ländern. Die unterschiedlichen Regelungen lassen auf recht verschiedene Gewichtungen von Zeugen-, Beschuldigten- und Strafverfolgungsinteresse schließen. Während in Deutschland die Zeugeninteressen an erster Stelle stehen, ist in Frankreich der Wahrheitsermittlung der Vorrang eingeräumt. In England ist das Bild nicht so eindeutig. Klar wird jedoch, dass dort zumindest die Beschuldigteninteressen die Interessen des Zeugen überwiegen.“
Mika Kremer, Strafprozessuale Angehörigenprivilegien im Rechtsvergleich, Tübingen 2018, S.311
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